IM LICHT LICHT UND DUNKEL SEHEN

Stephan Ch. Kessler

Licht ist nur im Licht zu sehen. Stimmt das? Was erkenne ich im Dunkeln? Ich sehe die Abwesenheit von Licht.
Die Bilder von Philip Stoll wecken die Aufmerksamkeit für die erkenntnistheoretische Maxime der Philosophie, dass Licht im Licht wahrgenommen werde. Die photographischen Gemälde, die in diesem besonderen Licht-Raum der romanisch-spätgotischen Kirche Sankt Peter entstanden, sind eine sinnliche Einladung zur Kon-Sensualität, zu einer Form existentieller Einfühlung. Sinne und Sinnlichkeit werden beim Anschauen dieser photographischen Bilder einerseits bestätigt, andererseits ist der Betrachtende aufgefordert, sie ins Offene und Weite zu überschreiten. Denn sowohl der Künstler wie auch der Gegenstand treten zurück: Photo-graphie im ganz wörtlichen Sinn als „Licht-Schrift“. In der Suche nach größtmöglicher Einfachheit und Reduktion auf das Wesentliche entsteht ein neues zurückgeworfen Sein des Lichts (Reflexion) und eine geweitete Durchsichtigkeit (Transparenz). Die Bilder von Philip Stoll lassen das Gegenständliche zurücktreten, sie reinigen die sinnliche Wahrnehmung äußeren Sehens und führen zu einer Konzentration auf die Wahrnehmung des unsichtbaren Lichtes selbst. Der Künstler nennt diese Reduktion ein „Schälen“ der Wirklichkeit. Durch die konzentrative Sammlung der Sinne auf das Wesen der Dinge wird der Kern dieser herausgeschält. Stolls Bilder sind in ihrer Abstraktion eine Form der Dekonstruktion äußerer Wahrnehmung. Hier bewegt sich der Künstler im großen Strom der Gegenwartskunst – von Piet Mondrian („Um eine Harmonie zu erzielen, sollte die Kunst sich nicht nach der äußeren Erscheinung der Natur, sondern nach deren Wesen richten“ 1941/42) bis hin zu den Lichträumen seines Mentors James Turell. Die photographischen Gemälde eröffnen einen lichten Innenraum und führen zu einer Erkenntnisform, die in der Auflösung des Gegenständlichen Neues aufscheinen lässt.

 

 

Das Leuchten des Lichtes selbst wird auf sinnliche Weise in einem „Anders-Raum“ erfahrbar („Espace autre“; Michel Foucault). Das Licht weist „übersinnlich“ über den konkreten photographisch aufgenommenen Raum und über die Zeit (4 Sekunden der Öffnung der Linse bei Blende 11) weit hinaus. Dadurch vermitteln die Bilder etwas von der meditativen Haltung, die Voraussetzung für ihre Entstehung ist und die eine Betrachtung in eben dieser Haltung empfiehlt.

Ganz analog beschreibt der neuplatonisch inspirierte Denker Augustinus von Hippo (354-430) diese ästhetische und erkenntnistheoretische Erfahrung und Praxis, die auch Philip Stoll vertraut ist. Von Hippos autobiografische „Confessiones“ lesen sich wie eine Beschreibung Stolls künstlerische Vorangehensweise: „Aufgefordert zu mir selbst zurückzukehren, betrat ich (…) mein Innerstes. Ich trat ein und schaute mit dem Auge meiner Seele, so schwach es war, (…) das unwandelbare Licht („lux inconmutabilis“).“ Es ist nicht das allen gemeine oder vermeintlich sichtbare Licht, „sondern etwas anderes, weit anders als alles sonst“. Dieses „andere Licht“ wird in den Gemälden von Philip Stoll sichtbar und spürbar: „Wer die Wahrheit kennt, kennt es“. Und Augustinus führt den Gedanken noch weiter, indem er auf die Relativität der Zeit verweist und personale Liebe als Erkenntniskraft hinzufügt: „Wer es kennt, kennt die Ewigkeit. Liebe kennt es“ (Confessiones 7,10,16).

In der Kunst von Philip Stoll geht es um Wahrheit, die Wahrheit in und hinter den Erscheinungen. Seine Belichtungen machen das Sichtbare unsichtbar, damit die unsichtbare Wirklichkeit sichtbar, fühlbar wird. Deswegen leuchtet auch im „Nicht des Lichts“ das „Licht des Nichts“ (Wilhelm Weischedel 1905-1975). Denn im Licht schauen wir Licht; und Dunkelheit ist nicht finster, Nacht leuchtet wie der Tag (vgl. Psalm 36, 10 und 139, 12). Stolls Bilder bereiten die Aufmerksamkeit, sowohl im Licht als auch im Dunkeln, das unwandelbare Licht erahnen zu lernen.